Die Geschichte beginnt wie in einem Hollywood-Film aus vergangenen
Zeiten: Ein Passagierdampfer durchpflügt die Wellen des Mittelmeers, die
Sonne ist bereits hinterm Horizont versunken, der Himmel erstrahlt
unwirklich in Gelb, Orange, Rot und Violett. Über der See herrscht
erwartungsvolle Stille. Das ganzseitige Bild, ein Aquarell, wird von einem
handgeschriebenen Text kommentiert: "Es war die Stunde der
malvenfarbenen Dämmerung. Der Westwind brachte den Duft Andalusiens
übers Meer das süße Aroma der Orangen vermischt mit der Strenge
des Salzes. Die , Koutoubia' glitt dahin wie eine Vision und verschwand in
den Wolken. Sie zog eine silberne Sichel auf dem Wasser hinter sich
her."
Der Leser blättert die erste Seite um und dringt ein in das Universum
des poetischen Comic-Künstlers Jacques de Loustal, in dessen Welt der
herzzerreißenden Melodramen: In Kabine 31 sitzt die amerikanische
Tennisspielerin Baby vor dem Schminktisch. Ihre lesbische Freundin Eva,
eine kräftige Deutsche, holt sie ab, um sie in den Speisesalon zu
führen. Dort treffen die beiden auf den jungen Offizier Robert, und schon
nimmt die Dreiecksgeschichte ihren fatalen Verlauf. In einer
nordafrikanischen Hafenstadt wird Robert Opfer einer Intrige und Baby von
einem Wüstenscheich entführt. Robert und Eva folgen ihrer Spur in die
Sahara, wo es nach allerlei Wirrungen zu einem reichlich verkorksten Happy
End kommt.
"Verwüstete Herzen", der erste große
Comic-Roman von Loustal, enthält bereits alle Grundmotive, auf die der
Franzose in seinen späteren Erzählungen und auch in seinen Einzelbildern
immer wieder zurückkommt: den exotischen Schauplatz; die Weite, die trotz
ihrer Schönheit vor allem Leere und Orientierungslosigkeit ausdrückt;
die genre hafte Erzählweise; das ewige Missverständnis der Protagonisten
untereinander; die grimmige Nostalgie, die durch einen bösen Humor
vollends ad absurdum geführt wird.
Der unvoreingenommene Leser wird von Loustals
Zeichnungen zunächst irritiert sein: Die Bildergeschichten scheinen auf
den ersten Blick nichts weiter zu bieten als einen Aufguss von Kinomythen.
Reisende auf Luxusdampfern, Kolonialoffiziere, Agenten, Gigolos oder
Prototypen amerikanischer Subkulturen, wie Jazzmusiker, Gangster und
Boxer, zählen zu seinen Lieblingsfiguren. Tatsächlich zitiert Loustal
sämtliche Klischees der populären Kultur, vor allem aus dem Hollywood
der 30er und 40er Jahre und aus der längst vergangenen Welt des Jazz. Er
erzählt die bekannten Geschichten von vergeblichen Leidenschaften,
tödlichen Missverständnissen und falschen Hoffnungen.
Doch Loustal verändert die Sichtweise auf diese
Mythen. Er deckt eine Schicht der Verworfenheit, der Perversion oder auch
der Verzweiflung auf, die in den mit strahlenden Technicolor-Farben
gezeichneten Geschichten lauert. Gerade helle und großflächige Bilder
dienen Loustal dazu, die finsteren Abgründe der Seele zu illustrieren.
Auf diese Weise umschifft er die Gefahr, in billige Nostalgie oder gar
Kitsch abzugleiten. Zwar benutzt er bekannte Motive. Doch er verwendet sie
als Künstler unserer Zeit, selbst wenn er die ewig gleichen Melodramen
erzählt, die seit Beginn der Zivilisation von den menschlichen
Leidenschaften berichten.
Diese neue Dimension, die sich bei der Lektüre des
Kolonialdramas "Verwüstete Herzen" oder beim traurigen Jazz-Epos "Besame
Mucho" einstellt, macht die originäre Qualität der
Bildergeschichten aus. Mit dem amerikanische Begriff Comic hat das kaum
noch et was zu tun. Trotz vieler Hollywood Bezüge gibt es bei Loustal
keine wirklichen Helden: Seine Figuren, ob Männer oder Frauen, werden vom
Schicksal misshandelt und um ihr Glück betrogen. Jeder ihrer Versuche,
sich aus dem Sumpf der Melancholie Freizustrampeln, endet in einem Fiasko.
Die einzige Verwirklichung, die die Figuren finden können, ist die
Selbstzerstörung oder die Befriedigung ihrer Rachegelüste. Der Leser
wird in ein Knäuel verwirrter Gefühle und zerbrochener Psychen
hineingezogen.
An das französische Kino, den poetischen Realismus der
30er Jahre oder die nihilistischen Gangsterfilme Jean-Pierre Melvilles
erinnern sowohl Handlung als auch Charaktere; auf die amerikanische
Schwarze Serie verweisen die Ausweglosigkeit und das Schicksalhafte
der Dramen. Die hellen Farbflächen sprechen auf den ersten Blick eine
andere Sprache. Existenzialismus oder Zynismus scheinen hier keinen Platz
zu finden. Doch der Schein trügt: Die Wüste ist schön, aber trostlos.
Die nordafrikanischen Städte glänzen in der Sonne, hinter den Mauern
jedoch lauert das Fremde. Die weitläufigen Villen der Reichen künden von
Luxus, doch in den verhätschelten Herzen wächst die Einsamkeit.
vertrocknet die Begierde. Die Jazz versprechen Geborgenheit, sind aber von
gefühllosen Ignoranten bevölkert.
Zur Kunst kam Loustal während seines Studiums der
Architektur in Paris, als er begann, für verschiedene Szene-Blätter
Illustrationen zu zeichnen. Lange Zeit war er für die Musikzeitschrift
"Rock & Folk" tätig, wo er auch Paringaux, den
Chefredakteur, kennen lernte. Die beiden wurden in ihren gemeinsamen
Arbeiten eines der innovativsten Zeichner-Autoren-Duos in Frankreich.
Loustals Bilder, meist großformatiger als bei anderen Comic-Zeichnen und häufig als Aquarelle gemalt, werden von lakonischen Texten
kommentiert und oftmals stark relativiert. Text und Bild befinden sich
immer auf verschiedenen Erzählebenen, Sprechblasen gibt es kaum. So steht
unter einem Bild in "Besame Mucho": "Die Zeit vergeht. Im
selben Rhythmus wie die Pendeluhr auf der Kommode schwingt Boris den Arm.
Einmal pro Sekunde streifen seine Fingerspitzen über die kühlen
Bodenfliesen. Boris sitzt im Haus und blickt auf das Geschehen nach
draußen. Dort ist eine Frau mit Sonnenbrille an einem Swimmingpool zu
sehen, während ein Mann vom Brett ins Wasser springt. Der Text kommt,
filmisch gesprochen, aus dem "Off". Er enthüllt die Beziehung
des Betrachters in der Geschichte zu dem, was der Leser von außerhalb
sieht.
In seinen kürzeren Geschichten treibt der Zeichner
diese Methode gelegentlich auf die Spitze. Die Episode "New
Mexico" in dem Band "Wege der Liebe", beispielsweise,
handelt von einem jugendlichen Gangsterpärchen, das in einer Raststätte
am Highway Station macht, nachdem es zuvor ein Auto geknackt hat. Die
Bilder zeigen das Lokal, die Barfrau und einen Gast. Die Protagonisten
selbst, genauer gesagt ihre Hände, sind nur ein einziges Mal zu sehen.
Auch die darauf folgende Bluttat kann der Leser nur durch eine umgekippte
Ketchup-Flasche erahnen. Trotz dieser Aussparungen erzählen die zwölf
Bilder und der davon fast unabhängige Text die Lebensgeschichte des
Gangsterpärchens bis zum bitteren Ende.
Besonders die kurzen Storys handeln von unterdrückten,
oftmals nur angedeuteten Leidenschaften, deren volles Ausmaß gerade durch
den Widerspruch von Text und Bild erkennbar wird zum Essentiellen. Das
fehlende Glied zwischen Illustration und Text, die erzählerische Kluft,
die sich dort auftut, ist gleichbedeutend mit der existenziellen Leere,
die der Protagonist in sich spürt.
Vom Verlust einer Hoffnung, eines Verlangens handelt
auch "Liebe ist eine grüne Pflanze_ aus dem gleichen Band. Auf nur
sechs Seiten entfaltet sich das ganz persönliche Drama eines Gigolos, der
zu seiner eigenen Verblüffung feststellen muss, das er sich in einen Mann
verliebt hat. Der Monolog der Hauptfigur lässt trotz seiner Knappheit an
literarischer Qualität nichts zu wünschen übrig: "Ich hatte
nämlich eben ein ganz neues Gefühl im Bauch. Es ist weich und lebendig
und wird größer, wenn ich trinke. Wie ein Schwamm oder eine Pflanze:*
Der verwirrte Gigolo traut sich nicht, die Wahrheit auszusprechen; sie
würde ihm ohnehin nichts nützen. Das große Gefühl wird banal
ausgelöscht, übrig bleibt nur die Leere einer unerfüllten Leidenschaft:
"Die grüne Pflanze in meinem Bauch ist vertrocknet, und sie fehlt
mir schrecklich."
Vor allem der englische Maler David Hockney hat Loustal
beeinflusst. Dem berühmten Bild "A bigger splash" hat der
Franzose in der Swimmingpool Szene von "Besame mucho' ein kleines
Denkmal gesetzt. Loustals Illustrationen sind Momentaufnahmen, die ein
beiläufiges Geschehen für den Bruchteil einer Sekunde anhalten.
Vermittels der vor oder Nachgeordneten Bildfelder oder dem unter den
Bildfolgen durchlaufenden Text, gelingt es ihm, diesen Momenten des
Verharrens einen Hauch von Ewigkeit zu geben. Somit entsteht eine Distanz
des Lesers zu den Schauplätzen und den Personen als auch eine Distanz der
Figuren zu ihrer Umgebung.
Nicht ohne Grund lautet der Titel der deutschen Ausgabe
seiner Einzelbilder-Sammlung "Unendliche Augenblicke". Sie
zeigen das Erstarren der Welt in einem Moment der Banalität, gepaart mit
einem kurzen Text, der diesem Moment eine überraschende Bedeutung
verleiht. Was soeben passiert ist, was sichtbare oder unsichtbare Spuren hinterlässt, wird von Loustals "reinen Kunstwerken", den
Tuschezeichnungen und Aquarellen, thematisiert. Sie zeigen Orte, die
gerade durch ihre Verlassenheit von einem menschlichen Drama oder einer
kleinen Leidenschaft künden.
Loustal benutzt den photographischen Effekt des
Erstarrens in einer Bewegung und verabschiedet sich damit von einem wesentlichen
Stilelement des Comics: der Visualisierung von Bewegung. Zu diesem
Abschied von einem grundlegenden Wert der Comic Ästhetik gehört im
Gegensatz zu Hergé und anderen Zeichnern der "Klaren
Linie" auch der Verzicht auf die Ausdrucksstärke des Strichs
zugunsten der stilbildenden Mittel Fläche und Farbe. Den Charakteren, die
im Mittelpunkt der Comic-Romane und Kurzgeschichten stehen, verleiht er,
trotz aller Starrheit, Leben und zwischenmenschliche Spannung, indem er
nicht die konfliktreiche Handlung in den Mittelpunkt stellt, sondern die
Momente vor und nach den Eskalationen der Gefühle.
16 Alben mit Werken von Jacques de Loustal sind seit
1980 in Frankreich erschienen, sieben davon mittlerweile auch bei uns.
Für einen 1956 geborenen, also noch relativ jungen Künstler ein
erstaunliches Oeuvre. Ein Aufenthalt in Marokko Loustal absolvierte dort
seinen Militärdienst hat ihn zu zahlreichen Bildern und Geschichten
angeregt. Es entstanden viele Aquarelle, die später in die Sammlungen
"Zenata Beach" und "Unendliche Augenblicke"
aufgenommen wurden. Auch die Illustrationen zu einer in Nordafrika
spielenden Geschichte des französischen Kriminalschriftstellers Tito
Topin mit dem Titel "Kaltes Fieber" dürften ein Ergebnis dieser
Zeit sein. Reisen in die USA bewogen Loustal dazu, einige Kurzgeschichten
mit den verblichenen Mythen des Landes der angeblich unbegrenzten
Möglichkeiten zu versehen.
Loustal versteht sich nicht als Comic Zeichner im
eigentlichen Sinne. Er sieht sich eher als Illustrator. Und er hat der
Weit der Bildergeschichten sicherlich neue Dimensionen in Richtung Kunst
eröffnet. In dem soeben auf französisch erschienenen Band "Memoires
avec dames par Morel Cox" fünf am Rande der Perversion angesiedelte,
erotische Agentenabenteuer aus den Jahren 1927-40 - setzt Loustal nun
erstaunlicherweise auf eine konventionellere Erzählform: Mehr und
kleinformatigere Bilder erscheinen auf einer Seite, Sprechblasen werden
verwand. Auch der gerade im deutschen " Loustal-Verlag"
Schreiber& Leser erschienene Kurzgeschichten Band "Nachsaison" enthält Geschichten mit einigen Sprechblasen, die
allerdings den für Loustal üblichen Begleittext unter den Bildern nur
leicht ergänzen,
Gerade diese Erzählungen lassen Loustals Zynismus
besonders stark hervortreten. Die wenigen Worte, die er und Paringaux den
Protagonisten _ eine Familie, die nach dem Atomkrieg spazieren geht, oder
ein gefühllos nebeneinander hergebendes Ehepaar _ in den Mund legen,
befördern die Geschichten in den Sumpf der gelungenen Geschmacklosigkeit.
Leerläufe sind im Werk dieses arbeitswütigen
Zeichners bis jetzt noch nicht ausmachen. Ein zweiter Band, der 1989 in
Frankreich veröffentlicht wurde ("New York Miami 90"), zeugt
von einer ungebrochenen Lust an stilistischer und erzählerischer Viel falt. Bleibt zu hoffen, das die deutschen
Übersetzungen aller Loustal werke bald vor liegen. Das Interesse an ihm
ist bei uns gerade erst geweckt worden.
Bibliographie der deutschen Ausgaben:
" Zenata Beach , Edition Moderne (1984)
"Verwustete Herzen", Schreiber & Lese (1985)
" Besame Mucho ", Schreiber & Leser
(1987) "Unendliche Augenblicke, Schreiber& Leser (1988)
, Kaltes Fieber", Carlsen Comic Art (1988)
"Wege der Liebe", Schreiber & Leser (1989) "Nachsaison
", Schreiber & Leser (1989)
"New York - Miami 90" erscheint
voraussichtlich im Frühjahr 1990 bei Schreiber & Leser